Der Rat der Stadt Neuss

Der Rat der Stadt Neuss

Wer sich mit den Neusser Ratsprotokollen befasst, wird sich früher oder später die Frage stellen: Was war der Stadtrat, an dessen Sitzungen wir über die Protokolle indirekt teilhaben können, eigentlich für ein Gremium und wer war darin überhaupt vertreten? Der Rat der Stadt ist heute, in unserer demokratisch verfassten Gesellschaft, die kommunale Volksvertretung aller Bürger*innen einer Kommune. Im Rat der Stadt Neuss stimmen gewählte Vertreter*innen, die Stadtverordneten, über alle wichtigen Belange der Stadt ab. Die Geschichte des Neusser Stadtrates reicht indes bis weit in die Zeit des Mittelalters zurück. Dabei haben seine Zusammensetzung, seine Rechte und seine Organisation im Laufe der Zeit zahlreiche Veränderungen erfahren.

Der Rat bis 1794 (Kurkölnische Zeit)

Die Geschichte des Stadtrates ist untrennbar mit den Unabhängigkeitsbemühungen der Stadt im Spätmittelalter verbunden. Seit dem 10. Jahrhundert gehörte die Stadt Neuss zum Herrschaftsgebiet des Kölner Erzbischofes, der seine Rechte und Pflichten als Gerichtsherr durch die von ihm ernannten Schöffen (genannt Schöffenkollegium) und seinen Schultheiß vertreten ließ. Schon die Zusammensetzung dieses Gremiums, dessen Aufgabe es war, den Einfluss des Erzbischofes auf die Stadt zu sichern, brach im Laufe des 13. Jahrhunderts auf und das Kollegium erlangte das Recht, seine Mitglieder selbst zu bestimmen. Damit begann sich der Kreis der Mitglieder auf wenige wohlhabende Familien der Stadt Neuss zu verdichten und auch die Position des Schultheiß, der den Vorsitz im Schöffengericht innehatte, wurde ab dem 15. Jahrhundert vermehrt vom Kölner Erzbischof (aufgrund chronischen Geldmangels) verpfändet und kam damit in den Besitz von Neusser Bürgern.

Parallel zu den Entwicklungen des Schöffengremiums entwickelte sich der Stadtrat zu Beginn des 13. Jahrhunderts als dessen Gegengewicht und vom Kölner Erzbischof unabhängige Verwaltungsbehörde. Die Kompetenzen des Rates wurden zwar nie genau schriftlich festgehalten, umfassten aber grundlegend alle Bereiche des öffentlichen Lebens der Stadt. Von der Stadtverteidigung über die Kontrolle der städtischen Beamten bis zu Verordnungen zum Ausschank von Wein, lassen sich die unterschiedlichsten Kompetenzen in den Ratsprotokollen finden. Daneben kann mit den überlieferten Ratsprotokollen eine umfassende Liste der Ratsmitglieder seit dem Jahr 1530 erstellt werden. Diese Mitglieder wurden auf Lebenszeit gewählt und tagten, als der Rat seine Arbeit aufnahm, jeden Freitag. Ab dem 16. Jahrhundert schien eine Sitzung pro Woche jedoch nicht mehr ausreichend gewesen zu sein und so verdoppelten sich die Tagungstermine auf zweimal pro Woche. Da das Ausüben eines Amtes innerhalb des Rates eine Aufgabe war, die ehrenamtlich ausgeführt wurde, wundert es daher kaum, dass eine Position im Rat nur den Neusser Bürgern offenstand, die es sich finanziell leisten konnten. Zwar erhielten die Ratsmitglieder ab der Mitte des 16. Jahrhunderts ein „Anwesenheitsgeld“, jedoch war dies recht gering und kann in erster Linie als eine Art „Anerkennungsgeld“ betrachtet werden. Ganz ohne finanzielle Vergütung wurde das Amt jedoch nicht ausgeübt, denn auch kleinere und größere Geldgeschenke waren, über das Knüpfen neuer Kontakte in der Bürgerschaft hinaus, ein Vorteil, den man aus dem Amt im Rat ziehen konnte. Darüber hinaus war die Mitgliedschaft im Rat die Voraussetzung dafür, in andere Ämter der städtischen Verwaltung aufsteigen zu können. Durch die hohe finanzielle Hürde entwickelte sich der Rat zu einer homogenen Gruppe, die Uneinigkeiten zwar über ein einfaches Mehrheitsvotum entschied, das jedoch nur selten zum Einsatz kommen musste.

Das höchste Amt, dem ein Ratsmitglied entgegenstreben konnte, war das Amt des Bürgermeisters. Die zwei amtierenden Bürgermeister – einer aus dem Kreis der Ratsmitglieder und ein Mitglied des Schöffenkollegiums – vertraten die Stadt nach außen hin und hatten den Vorsitz der Ratssitzungen inne. Damit verbunden waren häufige Reisen zu den Landtagen und dem Kurfürsten. Ab dem 15. Jahrhundert erweiterten sich die Kompetenzen der Bürgermeister um richterliche und polizeiliche Aufgaben. Neben den Bürgermeistern entwickelte sich das Amt des Rentmeisters, das ebenfalls von zwei Personen ausgefüllt wurde und die fiskalischen Aufgaben übernahm, die noch zuvor von den beiden Bürgermeistern ausgeführt worden waren. Im Gegensatz zu den alljährlich neu gewählten Bürgermeistern, deren Aufgaben als ein Ehrenamt übernommen wurden, wurden die Rentmeister, die ihr Amt ebenfalls ein Jahr innehatten, für die Ausübung ihres Amtes bezahlt.

So entwickelte sich eine in der Stadt recht geschlossene Gruppe, deren auf Lebenszeit ausgelegte Mitgliedschaft zumeist innerhalb weniger Familien weitergereicht wurde. Mit den sogenannten „Vierundzwanzigern“ bildete sich dann Mitte des 15. Jahrhunderts ein Gremium aus Gemeindevertretern als Gegengewicht zum Rat. Die Vierundzwanziger bestanden aus einem relativ gleichmäßig verteilten Querschnitt der Mittel- und Oberschicht und tauchen in den Ratsprotokollen vornehmlich als Kritiker der Ausgabenerteilung des Rates auf. (Text: Alexander Goebbels)

image

Der Rat 1794-1814 (Französische Zeit)

Mit dem Einmarsch französischer Revolutionstruppen in Neuss im Oktober 1794 begann auch ein neues Kapitel in der Neusser Stadtverfassung. Hatte die Stadt unter dem Kurfürsten weitgehend selbst über ihre Angelegenheiten entscheiden können, änderte sich dies nun grundlegend. Der weiterhin ehrenamtliche Bürgermeister, nun „Maire“ genannt, wurde nicht mehr gewählt, sondern durch die Regierung ernannt und war von den staatlichen Aufsichtsorganen abhängig. Die Vertretung der Bürgerschaft war zwar im nun „Munizipalrat“ genannten Stadtrat gegeben. Allerdings hatte er fast nur beratende Funktion und die durch die Kantonalversammlung vorgeschlagenen Mitglieder bedurften ebenfalls der Ernennung durch die Regierung. Die Zahl der Ratsmitglieder – Munizipalräte genannt – betrug in der Franzosenzeit zwischen 19 und 30.

image

Der Rat 1814/15-1945 (Preußische Zeit/NS-Zeit)

Nach dem Übergang der Rheinlande an Preußen 1814/1815 blieb dort die französische Munizipalverfassung zunächst in Kraft. Erst im Jahr 1845 wurde eine neue Gemeindeordnung für die Rheinprovinz eingeführt. Diese erfüllte zwar die Wünsche nach kommunaler Selbstverwaltung und nach einer Wahl von Gemeindevertretern und Bürgermeister. Allerdings war es ein ungleiches Wahlrecht, das nun auch in Neuss Einzug hielt: Mit dem Dreiklassenwahlrecht, das das Wahlrecht an den Anteil am Steueraufkommen knüpfte, wurden die wohlhabenden Bürger bevorzugt und ärmere Teile der Bevölkerung weitgehend ausgeschlossen. Der Stadtrat wurde 1845 in „Gemeinderat“ umbenannt und die Zahl der Mitglieder in Neuss entsprechend der damaligen Einwohnerzahl auf 18 festgesetzt. Die rheinische Städteordnung von 1856 änderte die Bezeichnung in „Stadtverordnetenversammlung“. Das Prinzip der Dreiklassensteuer blieb bis 1918 bestehen. Erst die Novemberrevolution brachte das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht für alle – erstmals auch für Frauen. Mit Stefanie Thywissen-Dorsemagen wurde 1919 die erste Frau in den Neusser Rat gewählt.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Januar 1933 wurden die kommunalen Vertretungskörperschaften und die Verwaltung gleichgeschaltet und das Führerprinzip eingeführt. Der bei der Kommunalwahl am 12. März 1933 gewählte Stadtrat trat nur ein einziges Mal, am 5. April 1933, zusammen und übertrug seine Befugnisse auf einen „beschließenden Ausschuss“. Am 1. Januar 1934 trat dann ein neues Gemeindeverfassungsgesetz in Kraft, das die volle Entscheidungsgewalt auf den Bürgermeister übertrug, der nicht mehr gewählt, sondern ernannt wurde. Die Deutsche Gemeindeordnung von 1934 gab den Stadtverordneten dann zwar den imposanten Titel „Ratsherren“, ein echtes Mitspracherecht hatten sie jedoch nicht. Die Zahl der Ratsherren für Neuss wurde 1934 auf 20 festgesetzt.

image

Der Rat ab 1945

Der politische demokratische Neuanfang nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stand zunächst unter der Hoheit von amerikanischer und dann britischer Besatzungsbehörde. Letztere führte die Doppelspitze mit einem jeweils vom Rat gewählten ehrenamtlichen Oberbürgermeister und einem Oberstadtdirektor als Chef der Verwaltung ein und hatte zunächst einen 25-köpfigen „Bürgerausschuss“ berufen. Im Oktober 1946 fand dann die erste freie Kommunalwahl statt, 30 Sitze umfasste der damals gewählte Neusser Stadtrat. Die „Doppelspitze“ wurde 1999 abgeschafft, der Bürgermeister ist seither Chef der Verwaltung und wird direkt gewählt.

image